Schluss mit den Glaubensfragen!

Eine Studie der ETH Zürich im Auftrag von Economiesuisse zeigt: Die Kernenergie macht die Schweizer Stromversorgung günstiger und sicherer. Nicht anstatt den Erneuerbaren, sondern gemeinsam mit ihnen. So geht pragmatischer, undogmatischer Klimaschutz.

18. Jan. 2024
Kernkraftwerk Gösgen
Quelle: Kernkraftwerk Gösgen

In der Landwirtschaft wächst die Monokultur nicht nachhaltig, ein Aktienportfolio setzt besser nicht auf Klumpenrisiken und auch im Casino würden wir alle wahrscheinlich unser Budget nicht gleich am Anfang auf Rot oder Schwarz setzen. Diversifikation heisst das Zauberwort, um sich in allen Lebenslagen die Resilienz zu erhöhen und sich bestmöglich gegen Unvorhergesehenes abzusichern.

Man könnte meinen, dass dieses einfache Prinzip auch für die Energieversorgung gelten muss. Doch in der politischen Debatte wird die Versorgung der Zukunft leider selten als Entscheidung unter Unsicherheit gesehen, sondern als reine Glaubensfrage: Photovoltaik kann aus technischer Sicht die Versorgungssicherheit gewährleisten, also müssen wir voll auf diese Karte setzen. Und wenn es in der Praxis anders kommt, hat man einfach zu wenig daran geglaubt.

Den meisten dürfte derweil klar sein: Nur ein breiter Mix von klimaneutraler Energie bringt uns vorwärts – «viel von allem» eben. Der Mantelerlass zum Energie- und Stromversorgungsgesetz folgt diesem Grundsatz zwar teilweise. Er weitet den Fächer bei der Förderung auf alle neuen Erneuerbaren aus, nicht mehr nur Photovoltaik. Dennoch ist er nicht konsequent technologieneutral. Die Kernenergie bleibt in den Diskussionen weiterhin aussen vor – obwohl sie immer noch rund einen Drittel unseres Stroms produziert.

Um eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit allen Technologien zu fördern, hat Economiesuisse eine Studie beim Energy Science Center der ETH Zürich in Auftrag gegeben. Der Auftrag: Eine Modellrechnung zu den Auswirkungen des Mantelerlasses und für den Weiterbetrieb der Kernenergie. Neben einem Referenzszenario (Mantelerlass und aktuell gesicherte KKW-Laufzeiten) betrachten zwei Szenarien die Auswirkungen verlängerter Laufzeiten: «KKW60» nimmt eine Laufzeit von 60 Jahren für alle verbleibenden Anlagen an. «KKW6580» geht von einer Betriebszeit von 65 Jahren für Beznau und jeweils 80 Jahren für Gösgen und Leibstadt aus. Ebenso untersucht die Studie die Perspektive eines neuen KKW ab 2040 im Szenario «KKW60+». Sensitivitäten zeigen in jedem Szenario die Auswirkungen verschiedener ausländischer Erzeugungsmixe und beschränkter Importkapazitäten auf.

Die Studie kommt zu fünf Hauptbefunden:

  1. Der Mantelerlass ist für die Versorgungssicherheit «notwendig aber nicht hinreichend». Im Referenzszenario werden die Ausbauziele für Erneuerbare bis 2035 klar verfehlt (25 statt 35 TWh) und bis 2050 knapp (43 statt 45 TWh). Der Importbedarf im Winterhalbjahr wächst zeitweise auf bis zu 10 TWh an.
  2. Je länger die Laufzeiten der bestehenden KKW, desto günstiger und sicherer wird es. Im Szenario «KKW6580» liegen die Systemkosten abzüglich der Investitionen in die Laufzeitverlängerung rund CHF 10 Mrd. tiefer als im Referenzszenario «Mantelerlass». Der Importbedarf im Winter kann fast auf Null reduziert werden. Die Systemkosten beziehen sich nur auf die Erzeugung und blenden Netzkosten jeweils aus.
  3. Auch ein neues KKW ab 2040 eröffnet interessante Perspektiven. Zwar ist die Systemkosteneinsparung abzüglich Investitionskosten negativ. Da das Modell aber nur bis 2050 reicht, werden weder die Kosten noch der Nutzen über die gesamte Lebensdauer abdiskontiert und adäquat abgebildet. Das Modell rechnet im Prinzip die vollen Investitionskosten an, geht aber nur von einer zehnjährigen Nutzung aus. Die Analyse gerät hier also an ihre Grenzen.
  4. Für Versorgungssicherheit kommen wir nicht um Grossanlagen mit einem Mindestmass an Winterproduktion herum. Ein schnelleres Auslaufen der Kernenergie erhöht den Druck zum Bau von alpinen Solaranlagen oder Gaskraftwerken. Die KKW stehen somit auch nicht in Konkurrenz zu Erneuerbaren – in keinem Szenario bremst die Kernenergie den Ausbau der Photovoltaik aus – sondern positionieren sich neu. Produzieren vornehmlich dann, wenn erneuerbare Energie nicht ausreichend vorhanden ist. Dadurch entsteht eine Symbiose zwischen KKW und Erneuerbaren.
  5. Die Schweiz braucht ein Stromabkommen. Die Sensitivitäten bilden die «70%-Regel» ab, die ab 2025 für das europäische Übertragungsnetz gilt. Sämtliche Szenarien zeigen unter eingeschränktem Stromhandel stark steigende Systemkosten auf. Unabhängig von KKW-Laufzeiten und inländischem Strommix liegen die Mehrkosten im Bereich von CHF 50 Mrd. oder 150% der regulären Systemkosten.

Die meisten dieser Befunde sind nicht neu. Sie sind sogar ziemlich intuitiv und unspektakulär. Dennoch ist es wichtig, sie Schwarz auf Weiss und wissenschaftlich erhärtet zu sehen. Es ist eine Bestätigung, dass es für die klimaneutrale Versorgungssicherheit keine dogmatische «silver bullet» gibt und wir alle Register ziehen müssen. So kann die Studie hoffentlich dazu beitragen, dass auf der nächsten Etappe der energiepolitischen Diskussion der Pragmatismus zurückkehrt und die lästigen Glaubensfragen einen tieferen Stellenwert einnehmen.

Alexander Keberle

Alexander Keberle ist seit April 2022 Mitglied der Geschäftsleitung bei Economiesuisse und leitet die Bereiche Infrastruktur, Energie und Umwelt und WWA «Wirtschaft. Wir alle.». In dieser Funktion ist er unter anderem Vize-Präsident des Vereins Go for Impact, Vice Chair in einem Business and Industry Advisory Committee (BIAC) der OECD und in zahlreichen Beiräten. Daneben ist er als Verwaltungsratspräsident eines KMU im Gesundheitsbereich aktiv. Vor Economiesuisse war Alexander als Associate Partner bei McKinsey & Company tätig. Alexander Keberle verfügt über einen Master in Law und Economics der Universität St. Gallen und einen Master in Public Policy der Universität Oxford, Blavatnik School of Government.

Verfasser/in

Alexander Keberle, Mitglied der Geschäftsleitung von Economiesuisse und Bereichsleiter Infrastruktur, Energie und Umwelt

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